Gerhard Vinnai (1973): „Sozialpsychologie der Arbeiterklasse“ – eine Rezension

Schade, dass es heute im Gegensatz zu vor einigen Jahrzehnten kaum mehr eine Auseinandersetzung mit der Frage gibt, wie sich die Klassenzugehörigkeit im Kapitalismus auf die Gesundheit, aber auch die Entwicklungen unsere Psyche auswirkt, da uns allen der Klassenbegriff als Basis für das Verständnis der Gesellschaft vom sog. Neoliberalismus ausgetrieben wurde. Insofern hat dieses Buch seine Stärken darin, diesen Versuch wenigstens zu wagen.

Buchcover: Gerhard Vinnai: "Sozialpsycholgie der Arbeiterklasse"Der Inhalt wird dem überaus spannenden Titel des etwas älteren Buches leider nicht gerecht. Einerseits arbeitet der Autor mit einem ziemlich veralteten Begriff der Arbeiter*innenklasse, der schon damals nicht mehr zeitgemäß war. Er definiert Arbeiter*in im wesentlichen als Fabriksarbeiter*in und konstruiert einen künstlichen Widerspruch zu den Interessen der Angestellten in Fabriken. Andere Teile der Arbeiter*innenklasse, die es auch damals schon massenhaft gab (Handel, beginnende Professionalisierung des Sozial- und Gesundheitsbereiches, Verwaltung) kommen kaum vor, obwohl es gerade in der Zeit der Entstehung dieses Buches bedeutende wissenschaftliche Diskussionen über die Veränderung der Arbeiter*innenklasse im Zuge der Umgestaltung des Produktionsprozesses mit der fortschreitenden Automatisierung gab.

Dem oberflächlichen Verständnis des Klassenbegriffes gesellt sich eine plattes Verständnis der menschlichen Psyche bzw. ihrer Erkrankungen hinzu, welches des öfteren mit Freud begründet wird. Die Psyche von Angehörigen der Arbeiter*innen wird im wesentlichen als von den Erfordernissen der Fabrik geprägt, als schizogen dargestellt. Dieser Begriff war und ist bis heute nicht üblich, verweist aber jedenfalls auf Krankheitsbilder aus dem schizoiden bzw. schizphrenen Krankheitsspektrum. Mag sein, dass diese Klassifizierung der damals erst in den Kinderschuhen steckenden Sozialpsychologie bzw. -psychiatrie geschuldet ist, die die Psyche einzig als gesellschaftliches Produkt definierte, eine Sichtweise, die spätestens mit dem biopsychosozialen Gesundheitsmodell, welches Ende der 1980er zum auch von der WHO akzeptieren Ansatz wurde, der bis heute allerdings mit Ausnahme vielleicht von Kuba nirgends auf der Welt umgesetzt ist, überholt war.

Manch andere Begriffe erscheinen heute ebenfalls nicht mehr zeitgemäß, werden in den folgenden Zitaten allerdings trotzdem kommentarlos wiedergegeben, um die immerhin ein halbes Jahrhundert alte Denkweise, auf welcher dieses Buch basiert, verstehen zu können.

Die Vielfalt der Unterdrückungsmechanismen, welche uns im Rahmen der Sozialisationsprozesse im Kapitalismus begegnen, geht dabei ebenso verloren, wie die Unterschiedlichkeit ihrer Auswirkungen auf unser emotionales Erleben und damit unsere Psyche. Gerade erst im Rahmen der COVID-19-Pandemie ist klar geworden, dass es oft die Vereinzelung und Individualisierung (Stichwort: Home Office) sind, welche massive Auswirkungen auf unsere psychische Gesundheit haben. Krankheitsbilder wie Depressionen oder Angststörungen haben ebenso wie Suchterkrankungen, die auch Vinnai bereits erwähnt, massiv zugenommen. Hier soll nicht bestritten werden, dass bei deren Entwicklung psychischer Erkrankungen auch unsere Sozialisation eine Rolle spielt. Allerdings ist deren Auftreten und ihre Ausprägung nicht selten von konkreten Auslösern abhängig, die oftmals lange nach der Adoleszenz eintreten. Wir sind im Gegensatz zu den Annahmen des Autors also nicht bereits mit dem Abschluss der Sozialisation für immer und ewig geprägt, sondern können uns verändern, solange wir leben. Das gilt auch für unsere Psyche und deren Erkrankungen.

Neben einer Reihe von spannenden Literaturverweisen, welche zeigen, wie früh und vielfältig das Thema bereits von Marx bis Adorno behandelt wurde, ist das Buch trotzdem wegen seiner Analyse des Klassenbewusstseins lesenswert. Auf Seite 148 z.B. erlaubt uns der Autor einen Einblick, in die heute wieder von vielen gestellte Frage, warum sich die Klasse selbst nicht als solche wahrnimmt:

Die Angst des isolierten Opfers übermächtiger Verhältnisse, die Wehrlosigkeit des Einzelnen gegenüber der etablierten Herrschaft, zwingt den Arbeiter partiell, das Opfer des Bewußtseins zu bringen, wenn er psychisch überleben will. Der Arbeiter ist nicht einfach zu wenig aufgeklärt, um seine soziale Situation zu durchschauen (die er übrigens wesentlich besser kennt, als viele Intellektuelle glauben), sondern zu wehrlos, um sich das Begreifen seiner Lage dauerhaft psychisch leisten zu können. […] Die Geschichte der Klassenkämpfe zeigt, daß die Arbeiterklasse mit der Erfahrung ihrer Macht und dem damit verbundenen Abbau von Angst, intellektuelle Interessen freisetzten kann, die es ihr erlauben, Lernprozesse sprunghaft durchzumachen, denen sie als passives Objekt der Verhältnisse massiven Widerstand entgegensetzt. Das kollektive Bedürfnis nach Aufklärung kann erst entstehen, wenn sich mit dieser die realistische Hoffnung verknüpfen läßt, daß sie den Kampf um eine wesentliche Veränderung der materiellen Verhältnisse erleichtern kann.

Der Autor kommt daher zur Schlussfolgerung, dass das politische Handeln kollektive und individuelle Bedürfnisse befriedigen muss. Die Befriedigung der letzteren ist die Voraussetzung, um die Kraft aufzubringen, welche der Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung erfordert, und zeigt gleichzeitig auf, was eine künftige Gesellschaft leisten könnte, indem sie dem Individuum gibt, was diesem vom Kapitalismus vorenthalten wird.

Dadurch kann auch die Angst, welche uns daran hindert, uns den herrschenden Verhältnissen entgegenzustellen, zumindest in den Griff bekommen werden. Denn es ist „eine tiefsitzende Angst, die dem solidarischen Kampf im Wege steht“, diese „ist der wesentliche subjektive Hemmschuh der Entfaltung einer politischen Identität des Arbeiters. Die Angst zwingt den Arbeiter, sich der Herrschaft zu assimilieren und das Opfer des Bewußtseins zu bringen. […] Die soziale Situation des Arbeiters produziert eine Potential der Unterwerfung und ein Potential der Befreiung, die miteinander verquickt sind. Die Sozialisation des Arbeiters in Familien, Schule und Betrieb zerstört seine Ideendiät und schafft zugleich rudimentär eine andere Identität, sie sich im Emanzipationskampf der Klasse entfalten kann. Die Widersprüche in der gesellschaftlichen Lage und im Sozialcharakter des Proletariats sind nur durch offenes organisiertes Handeln der Massen aufzuheben. […] Ihre Stellung im System der kapitalistischen Produktion erlaubt den Arbeitern nicht Interessen wie Bürger [im Sinn von Kapitalist*in – Anm. des Autors] individualistisch konsequent zu verfolgen. Der kooperative Charakter der industriellen Produktion, ihre gemeinsame Interessenlage gegenüber dem Kapital drängt die Arbeiter zur Kollektivität.“ (149f) Das gilt wohl für jede Form kollektiver Arbeit, weswegen das Kapital uns gerne einredet, dass es nichts Schöneres gibt als das Dasein als Ich-AG, EPU, wie auch immer die Spaltung der Klasse in Individuen gerade genant wird.

Genau hier erkennen wir einen der Grundfehler reformistischer Parteien, der dazu führt, dass sich die Angehörigen der Arbeiter*innenklasse nicht mehr von diesen vertreten fühlen. Der von vielen heute noch als positiven Ansatz von Kreisky hervorgehobene „Aufstieg“ ist es, der uns Arbeitenden vermittelt, dass wir uns individuell über andere erheben sollen, statt ein gutes Leben für alle zu erkämpfen.

Dem Wesen der Arbeiter*innenklasse ist ein solcher individualistischer Zugang fremd, weswegen eine Politik, die auf individuelle Verbesserungen der Lebenssituation abzielt, diese auch nicht als Klasse erreichen kann und diese vielmehr in egoistische Individuen spaltet, die sich dem Kapital auf Kosten ihrer Klassenbrüder- und -schwestern andienen.

Folglich braucht es eine Organisation, die uns arbeitenden Menschen die Möglichkeit gibt, selbstbestimmt und demokratisch kollektiv für unsere Interessen einzutreten. Genau diese Organisation gibt es derzeit nicht, da weder die bürgerlichen Arbeiter*innenparteien noch die Gewerkschaften ein Interesse daran haben, dass wir selbst systematisch und massenhaft politisch agieren, sondern uns das Märchen erzählen, dass sie – die da oben in der Partei – es für uns richten können.

Historisch gesehen waren es allerdings immer Massen, die echte gesellschaftliche Veränderungen herbeigeführt haben. Erst mit der Aufhebung der Kluft zwischen Basis und Führung kann wieder eine neue proletarische Kollektivität entstehen, wie sie z.B. mit den alle Lebensbereichen umfassenden Arbeiter*innenorganisationen der Zwischenkriegszeit in Österreich angestrebt wurde. Jede Form von Klassenkampf, insbes. der Arbeitskampf, ist immer auch eine Kampf darum, die Individualisierung, die Atomisierung, die Spaltung durch das Kapital aufzuheben und zu einem echten Kollektiv zu werden.

Der letzte Absatz des Buches auf Seite 155 zeigt einerseits das daraus entstehende Elend der aktuell bestehenden Organisationen der Arbeiter*innenklasse als auch den Ausweg aus diesem auf, weswegen ich diesen an den Schluss dieser Rezension stelle.

Einer Arbeiterklasse ohne kämpferische Organisation bleibt als Widerstandsform gegen eine feindliche soziale Realität nur die Gleichgültigkeit, die Apathie, als ohnmächtige, blinde Weigerung die ‚offizielle‘ Betriebsamkeit zu akzeptieren, sich von politischen Organisationen verplanen zu lassen, die ihre Interessen nicht vertreten. Die isolierten Einzelnen können sich nur in einer falschen Art und Weise gegen das Bestehende wehren, die sie immer weiter in dessen Misere verstrickt. Die Anpassung an kapitalistische Verhältnisse verlangt vom Arbeiter den Verzicht auf eine Identität, in der seine aufgeklärten Interessen und Bedürfnisse aufgehoben sind. Eine Identität, die vom Drang aufgeladen wird, mehr als das Objekt übermächtiger Verhältnisse zu sein, erlangt der Arbeiter einzig als politisches Individuum. Nur im kollektiven Kampf um eine veränderte Form der Produktion, um ein verändertes Gattungsleben, entfaltet sich die Subjektivität des Arbeiters. Das Kapital verdammt den Arbeiter zu einer verkrüppelten, dumpfen, bewußtlosen Daseinswiese, zu einer tierischen Existenz – er wird zum Menschen durch sein organisiertes Nein.

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