Georg Wieser (1938): Ein Staat stirbt. Oesterreich 1934-38

In dieser gnadenlosen Analyse rechnet Otto Leichter, der diese Texte rund um den sog. Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland unter Pseudonym verfasst hat, gnadenlos mit den Konservativen und deren Klassenkampf gegen die Arbeiter*innenklasse ab, welcher nicht nur zu den Bluttagen des Februar 1934 geführt hat, sondern seiner Meinung nach auch für den Verlust der Eigenstaatlichkeit verantwortlich war. Ebenso rechnet er mit den Fehler der Parteiführung der SDAPÖ ab, welche seiner Meinung nach beides hätte verhindern können. Besonders erstaunlich sind die Parallelen seiner Texte mit dem Verhalten der aktuellen Parteiführungen von ÖVP und SPÖ.

Buchcover - Georg Wieser: Ein Staat stirbtLeichter arbeitet die Vorgeschichte des Februar 1934, diesen selbst und die Zeit danach bis zum sog. Anschluss in 39 kurzen, schnell und leicht lesbaren, essayistischen Kapiteln ab. Dabei beginnt er im Gegensatz zur gängigen Geschichtsschreibung mit seiner Analyse bereits in der unmittelbaren Zeit nach dem I. Weltkrieg und führt die Möglichkeit des Faschismus in Österreich und Deutschland darauf zurück, dass die in beiden Ländern begonnene Revolution = Überwindung des Kapitalismus nicht zu Ende geführt wurde, wofür er die Führungen der sich damals sozialdemokratisch nennenden Parteien verantwortlich macht. (S. 36ff)

Nach der Abhandlung der bekannten historischen Ursachen für den Blutfebruar wie Schattendorf und Justizpalastbrand konzentriert er sich auf das ständige Zurückweichen der Parteiführung der SDAPÖ (der heutigen SPÖ), welches das Erstarken der Reaktion erst möglich machte und die Arbeiter*innenklasse im Moment des Angriffs sowohl ideologisch als auch im wahrsten Sinn des Wortes unbewaffnet zurückgelassen hat.

Darin sieht er auch die Ursache der Wut und Frustration vieler Genoss*innen, welche zur KPÖ oder gar der illegalen NSDAP überwechselten, vor allem aber den Grund, warum die vielen, die in den Jahren bis 1938 Widerstand gegen den sog. Austrofaschismus (und danach den der Nazis) leisteten, sich einen neuen Namen gaben: Revolutionäre Sozialisten (RS). Zu sehr war seiner Meinung nach der alte Name desavouiert.

Großartig beschrieben sind Beispiele des Widerstands in Zeiten der Illegalität, bei denen sich der Autor neben solchen im öffentlichen Raum insbes. auf den in den Betrieben konzentriert, welcher nicht möglich gewesen wäre, wenn sich die freien Gewerkschaften (die heutige FSG) nicht rasch neu organisiert und an die Bedingungen klandestiner Arbeit angepasst hätten.

Ungewöhnlich und mir teilweise neu ist die Darstellung der Bedeutung der Außenpolitik für die Entwicklung Österreichs hin zum und nach dem Februar 1934. Hier ernten die sog. Westmächte Leichters vernichtende Kritik, da sie Österreich hilf- und unterstützungslos zum Spielball im Match um die faschistische Vormacht zwischen Hitler und Mussolini werden ließen. In Anbetracht dieser Analyse kann ich mir nicht helfen und muss an die Ukraine und Kurdistan heutzutage denken …

Ein Buch, aus dem wir auch rund 85 Jahre nach dessen Entstehung viel lernen können, wenn wir nur wollen. Denn der weitere Lebensweg Leichters ist die brutalste Kritik an der Entwicklung der SPÖ, in welcher die ehemaligen Parteiführung nach 1945 die ehemaligen RS und deren politische Tradition mit allerlei bürokratischen Tricks im Gegensatz zur Vereinbarung, dass der Parteivorstand immer HalbeHalbe besetzt sein würde, bereits 1948 – obwohl diese die große Mehrheit der Mitglieder hinter sich hatten – verdrängten. 1949 kehrte Leichter kurz aus dem US-amerikanischen Exil zurück und flüchtete danach schnell wieder „vom Rechtsruck der SPÖ enttäuscht“ (Einleitung von Béla Rásky, S. 11). Dabei war die SPÖ im Jahre 1949 im Vergleich zu heute mit Sicherheit das, was viele derzeit als „linksradikal“ bezeichnen würden …

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