Aus den Medien tönt es seit Jahren – zuerst leise und in kleinen Häppchen, dann immer lauter und lauter, bis zuletzt endlich der Höhepunkt erreicht wurde „Die kalte Progression nimmt dir kleine*r Lohnabhängige*r deine Lohnerhöhung! Du bekommst mehr und hast dann weniger!“
Doch wem gehören die Medien, die das verbreiten? Und was stimmt wirklich in Bezug auf kalte Progression und Steuersenkungen? Unser Steuersystem ist ein progressives. Vereinfacht gesagt wird die Steuer also umso höher, je mehr du verdienst. So einfach wie das klingt, ist es aber dann doch nicht!
Zu Grunde liegt unserem Steuersystem das Einkommenssteuergesetz von 1988, die Durchrechnung der Einkommenssteuer über das gesamte Kalenderjahr um Schwankungen des Einkommens in verschiedenen Monaten auszugleichen und ein Stufensystem.
Die erste Stufe, der sog. Steuerfreibetrag, beträgt derzeit 11.000,– Euro im Jahr und ist in dieser Höhe auch schon in den Lohnsteuerrichtlinien 2002 zu finden, hat sich also seit 20 Jahren nicht verändert. 11.000,– Euro entsprechen einem monatlichen Einkommen unter 1.300 Euro brutto. Selbstverständlich sind 11.000,– Euro heute viel weniger wert als 2002.
Um zu erklären, wie die Einkommenssteuer funktioniert, schauen wir uns am besten ein paar Beispiele an.
Gabi T. arbeitet als mobile Heimhilfe, fährt ihre Dienstwege mit ihrem privaten PKW und hat zwei Kinder. Wegen ihrer Betreuungspflichten arbeitet die Alleinerziehern nicht Vollzeit
und hat ein monatliches Gehalt von nur 1.050,– Euro brutto. Die jährliche Bemessungsgrundlage für ihre Lohnsteuer beträgt ca 10.560,– Euro. Sie zahlt also keine Lohnsteuer und bekommt daher den Familienbonus+ nicht. Da sie keine Lohnsteuer zahlt, kann sie auch nichts von der Steuer absetzen, was nicht in Form einer Negativsteuer vom Finanzamt zurückbezahlt wird.
Ihre beruflich gefahrenen Wegstrecken kann sie als Kilometergeld, welches eine Aufwandsentschädigung ist, bei ihrer Firma verrechnen. Nun wurde aber das amtliche Kilometergeld seit 14 Jahren (2008!) nicht angehoben, sodass dieses schon längst eher eine Aufwandsbeteiligung als ein Aufwandsersatz ist. Folglich muss Gabi von ihrem ohnehin schon kargen Lohn etwas für die gefahrenen Kilometer dazu zahlen.
Wie stark trifft Gabi die von den bürgerlichen Parteien so gerne heraufbeschworene kalte Progression? Hat sie dann wirklich weniger, obwohl sie mehr verdient? Nehmen wir an, Gabi bekommt eine Lohnerhöhung von 5%. Sie bekommt jetzt statt 1.050,– Euro 1102,50 Euro brutto und zahlt rund 9,– Euro mehr an Sozialversicherung. Einkommenssteuer zahlt sie weiterhin keine und hat folglich 44,56 Euro netto mehr pro Monat. Den Familienbonus+ bekommt sie weiterhin nicht, weil sie von 0,– Euro Lohnsteuer exakt 0 absetzen kann. Auch sonst (Kilometergeld, Kinderbetreuungskonto, …) ändert sich für sie nichts.
Weder die kalte Progression noch die Höhe der Steuerstufen haben also einen Einfluss auf Gabis Nettogehalt.
Wie aber verhält es sich mit jemandem, der genau an der Grenze einer Steuerstufe liegt? Die Bemessungsgrundlage von Theo L. betrug 2020 genau 18.000 Euro. Mit seinen ca. 1.780,– Euro brutto zahlt er für die 7.000 Euro ab 11.001 Euro den Maximalbetrag von 1.400,– Euro Einkommenssteuer, der in der ersten Steuerstufe möglich ist, falls er nichts absetzen kann. Auch Theo bekommt 5% Lohnerhöhung und hat jetzt eine Bemessungsgrundlage von 18.900,– Euro im Jahr. Für die ersten 11.000,– Euro zahlt er weiterhin keine Einkommenssteuer, für die nächsten 7.000,– Euro weiterhin 1.400,— Euro (20%) und von den 900,– Euro, die er jetzt mehr verdient, legt er satte 315,– Euro (also 35% von diesem Betrag) ab. Nach der Lohnerhöhung zahlt er also 1.715,– Euro Einkommenssteuer im Jahr.
Durch die Senkung des Steuersatzes in der zweiten Steuerstufe auf 32,5% (2022) und 30% (2023) sinkt seine Einkommenssteuer heuer auf 1692,50 Euro bzw. 2023 auf 1670,– Euro.
Wird jetzt die Steuerstufen 35% auf 32,5 und im Folge Jahr auf 30% verändert. Trotzdem er mit 900,– Euro in die zweite Steuerstufe rutscht, verdient er 2023 statt 1383,33 Euro vor der Tarifreform nach dieser 1431,08 netto im Monat. Effektiv hat sich sein Nettogehalt also um 3,52% erhöht.
Wir sehen also, dass es vollkommen unmöglich ist, dass jemand, der brutto mehr verdient, netto weniger bekommt, selbst wenn der Betrag in der nächsthöheren Steuerstufe sehr gering ausfällt. Weil eben nie das gesamte Gehalt mit dem höheren Satz versteuert wird, sondern nur ein Teil davon. Wer brutto mehr verdient, bekommt auch netto immer mehr!
Selbstverständlich würde eine Anpassung der Steuerstufen an die Gehaltsentwicklung aber dazu führen, dass netto noch mehr vom brutto bleibt. Umso mehr, je besser jemand verdient. Und gar nicht, wenn jemand keine Einkommenssteuer zahlt.
Warum also das ganze Geschrei wegen der kalten Progression und die ständige Veränderung von Steuersätzen?
Basti K. verdiente im Monat 22.600,– Euro und hatte ein Dienstauto mit Chauffeur. Da unser
Sozialversicherungssystem eine monatliche Höchstbeitragsgrundlage vorsieht, zahlt er nur für 5.670,– Euro Sozialversicherungsbeiträge – gemessen an seinem Gesamtgehalt also viel weniger als Gabi und Theo. Nach Abzug der Sozialversicherungsbeiträge von 1027,40 Euro kommt Basti auf eine Bemessungsgrundlage von rund 259.000,– Euro. Für die ersten 11.000,– Euro davon zahlt er wie jede*r andere auch keine Einkommenssteuer, für die nächsten 7.000,– 20%, für weitere 13.000,– 35%, dann für weitere 29.000,– 42%, für die nächsten 30.000,– 48% und für die restlichen 169.000,– Euro 50% Einkommenssteuer. Insgesamt also 117.030,– Euro, falls er überhaupt nichts absetzen kann, was ziemlich unwahrscheinlich ist, schließlich ist zu vermuten, dass er Partei- und Kirchensteuer zahlt.
Würden nun die Grenzen aller Steuerstufen um 5% angehoben, also dann 11.550,–, 18.900,–, 32.550,–, 63.000,–, 94.500,– und 1,05 Millionen Euro betragen, bekommt er 2.000,– Euro netto mehr, ohne brutto auch nur 1 Cent mehr zu verdienen. Das sind rund zwei Monatsnettogehälter von Gabi. Durch die aktuelle Senkung des Steuertarifs für Gehälter zwischen 18.001 Euro und 31.000 Euro lukriert er zusätzlich noch mal 1.220 Euro netto mehr.
Wir sehen: Die großen Gewinner*innen der Abschaffung der kalten Progression und der ökosozialen Steuerreform sind zuerst einmal jene, die viel verdienen. Und dann noch jene, die knapp unter der Grenze zur nächsten Steuerstufe liegen. Das sind auch jene, die uns Lohnabhängige zu unserem eigenen Nachteil aufwiegeln, indem sie uns weismachen, dass die Abschaffung der kalten Progression gut für uns wäre.
Was uns wirklich weh tut, was uns tatsächlich im Geldbörsel fehlt ist aber nicht die Höhe der Steuerstufen, die dazu führen kann, dass sich Lohn- bzw. Gehaltserhöhungen netto weniger auswirken als brutto, sondern die Grenzen der unteren Steuerstufen, die sich seit langem nicht geändert haben – ganz besonders die Steuerfreigrenze.
Ebenfalls entscheidend für uns ist die Höhe von Aufwandsersätzen, Zuverdienstgrenzen, die Möglichkeit für Partner*innen, Kosten bei der Arbeitnehmer*innenveranlagung geltend machen zu können und ganz besonders, dass jeder Absetzbetrag negativsteuerfähgig wird. Nur dann ergeht es uns allen nicht wie Gabi.
Darum wird es auch Zeit, dass wir uns nicht länger täuschen lassen. Die Abschaffung der kalten Progression dient nicht denen, die wenig verdienen, sondern ist eine groß angelegte Umverteilung von unten nach oben.
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