Berni Kelb (1972): Betriebsfibel. Ratschläge für die Taktik am Arbeitsplatz – eine Rezension

In letzter Zeit stoße ich ständig auf Bücher, die mit „Alt und gut“ übertitelt werden können. In diesem schmalen Bändchen gelingt dem Autor ein schöner Überblick zu den Überlegungen der außerparlamentarischen Linken in den frühen 1970ern zu dem, was wir heute Selbstermächtigung der Arbeiter*innenklasse nennen würden.

Cover des BuchesWesentliche Überlegungen in diesem Zusammenhang decken sich mit dem, was heutzutage in Organizing-Prozessen (wenn diese denn zugelassen werden …) Standard ist: 1. Die Kolleg*innen selbst entscheiden über die ihnen wichtigen Themen, beschließen kollektiv den Rhythmus und die Formen des Kampfes. 2. Betriebsrät*innen und Gewerkschaften haben sich den Entscheidungen der Kolleg*innen zu unterwerfen. Sie sind Werkzeuge der Beschäftigten und nicht diejenigen, die es besser wissen oder gar das Recht haben, zu entscheiden, was für die Kolleg*innen das Richtige ist.

Wesentlich für die Umsetzung eines solchen Zugangs ist die kontinuierliche Arbeit von Betriebskomitees. Diese gibt es sogar im ÖGB-Statut als Organisationseinheit der Gewerkschaften im Betrieb, auch wenn sie dort gewerkschaftliche Betriebsgruppen genannt werden. Seien wir mal ehrlich: Wie viele Betriebe kennst du, in denen es tatsächlich aktive Betriebsgruppen gibt? Ich kenne genau drei und würde mich sehr freuen von euch über weitere Beispiele informiert zu werden.

So weit also die schöne Theorie. Tatsächlich ist es meistens genau andersrum. Gewerkschaftsfunktionär*innen wie z.B. Kollektivvertragsverhandlungsteams entscheiden darüber, ob, wann und wie gekämpft wird. Ob das für die betroffenen Kolleg*innen richtig oder falsch ist, interessiert sie nicht. Betriebsrät*innen machen ihre Deals, oft in Form von Betriebsvereinbarungen, mit den Bossen, ohne ihre Belegschaften einzubinden oder auch nur auf die Idee zu kommen, dass es mehr als den Verhandlungstisch gibt. Das gleiche Problem stellt sich bei 99% aller Kollektivvertragsverhandlungen. Kein Wunder also, dass dabei meistens ein Kompromist rauskommt.

Und kein Wunder auch, dass immer weniger und weniger Kolleg*innen Gewerkschaftsmitglied sein wollen. Wer nicht entscheiden darf, wann, wie und wo für seine Arbeitsbedingungen gekämpft wird, hat kein Interesse an bürokratischen Spielchen. Diese sind auch ein Grund, warum es in vielen Betrieben immer schwerer fällt, genügend Kolleg*innen zur Besetzung der Betriebsratsmandate zu finden.

Der in diesem Büchlein vertretene Zugang macht genau das Gegenteil: Möglichst viele Kolleg*innen werden dauerhaft in die Betriebsrats- und Gewerkschaftsarbeit eingebunden. Das motiviert, was ich aus eigener Erfahrung bestätigen kann.

Trotzdem bleibt die Arbeit als basisorientierter Betriebsrat auch für mich, der gleichzeitig Funktionen in der Gewerkschaft hat und Mitglied in einem Kollektivvertragsverhandlungsteam ist, auch nach über 20 Jahren noch immer eine Gratwanderung.

Die Kolleg*innen aus dem Betrieb verstehen nicht, warum es dort nicht auch so demokratisch zugehen kann, während viele Kolleg*innen im Verhandlungsteam nicht verstehen, wie die Arbeit im Betrieb so überhaupt funktionieren kann, weil die Kolleg*innen ihrer Meinung nach zu wenig Ahnung haben. Nun denn – eigentlich wäre es die Arbeit von Betriebsrät*innen dafür zu sorgen, dass die Kolleg*innen genug „Ahnung“ haben. Zwei Welten treffen also aufeinander und verstehen sich wie so oft nicht. Von beiden Seiten gibt es kein Interesse, sich mit der anderen Welt auseinanderzusetzen.

Mit den Worten des Autors: „Die Gewerkschaftsführung soll die Macht der Mitglieder gegenüber dem herrschenden System verkörpern. Tatsächlich verkörpert sie aber die Macht über die Mitglieder. Für das herrschende System. Sie ist Teil des herrschenden Systems geworden. Sie faßt sich gestandenermaßen als ‚Ordnungsfaktor‘ auf, als Stütze der Gesellschaft.“ (S. 56)

Diese wenigen Zeilen machen den Doppelcharakter von Gewerkschaften offensichtlich. Sie zeigen, was Gewerkschaften könnten (die Systemfrage stellen) und was sie tatsächlich tun (das System stabilisieren). Allerdings können sie das nur, wenn wir – die Mitglieder – sie lassen. Es liegt an uns, das zu ändern. Denn auch die Gewerkschaften stehen still, wenn wir das wollen. Ohne das wir handeln, können sich alle Gewerkschaftsführungen auf der Welt auf den Kopf stellen, ohne dass sich was bewegt.

Beginnen wir damit in unseren eigenen Betrieben. Entscheiden wir selbst, wann wir was zu welchem Zweck tun. Gemeinsam. Auf Betriebsversammlungen, die so oft stattfinden, wie das erforderlich ist. Und fordern wir das gleichzeitig von unseren Gewerkschaften ein. Kein Forderungsprogramm, kein Kollektivvertragsabschluss, kein Arbeitskampf ohne Urabstimmung der Mitglieder darüber. Gerade in Zeiten des Internets ist das wahrlich keine Hexerei mehr.

Klar konnte Kelb diese Möglichkeiten zur Demokratisierung nicht voraussehen und muss daher um neue Kommunikationsformen ergänzt werden. Hier kommen wir auch zu den Schwächen des Autors: Er hat einen workeristischen Zugang, der nur manuell Arbeitende als Teil der Klasse begreift und Angestellte als Feind definiert. Dies mag dem Verständnis der Zeit geschuldet sein, kann für viele Leser*innen heutzutage aber verwirrend sein, die genau wisse, dass die Arbeiter*innen im engen Sinn des Wortes immer mehr zur Minderheit werden.

Umso wichtiger ist es, uns den Klassenbegriff zurückzuerobern: Arbeiter*innenklasse sind alle, die arbeiten müssen, mussten oder müssen werden, um leben zu können. Alle, die für Geld arbeiten also. Alle, die keine Produktionsmittel besitzen. Solange wir selbst uns in Arbeiter*innen, Angestellte, EPUs, neue Selbständige, … spalten, dürfen wir uns nicht wundern, wenn uns das Kapital täglich mehr auf den Kopf sch…!

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