29. Mai: Zehntausende demonstrieren in ganz Spanien für die sofortige Prüfung der Konten des öffentlichen Pensionssystems

Am 29. Mai fanden in ganz Spanien Demonstrationen statt, zu denen vor allem die landesweite Koordination der Pnesionist*innen COESPE sowie einige regionale Pnesionist*inneninitiativen aufgerufen hatten: mit über 3.000 Teilnehmer*innen in Madrid, 2.000 in Barcelona, Tausenden in Bilbao und im ganzen Baskenland, in Valencia und Murcia, Malaga, Granada, Sevilla, Cadiz, Cordoba, Segovia, Salamanca, Teneriffa … Aktionen gab es in über 200 Städten Spaniens. Im Zentrum stand die Verteidigung des gesetzlichen, umlagefinanzierten Pensionssystems, das bereits 2011 von der PSOE (Sozialdemokratie), 2013 von der PP (Volkspartei) und jetzt erneut von der aktuellen Regierung aus PSOE, Podemos und KP über den „Pakt von Toledo“ (einer parteiübergreifende Kommission) massiv angegriffen wird. Die zentrale Forderung ist die Verteidigung des gesetzlichen, öffentlichen Pensionssystems und die sofortige Prüfung der Konten des öffentlichen Pensionssystems.

Warum das? Über 30 Jahre lang haben Regierungen verschiedener politischer Couleur über 500 Milliarden Euro (Schätzung der Gewerkschaft CCOO) von diesen Konten entnommen und zweckentfremdet, also nicht für Pensionen verwendet. Dabei handelt es sich bei diesen Geldern wie in Österreich um Teile des Lohnes (indirekter, vorenthaltener Lohn).

Jetzt soll kein Geld mehr da sein und „Reformen“ seien notwendig, um die Pensionen durch private Pensionsversicherungen und die Demonstration in Spanien für die öffentliche Überprüfung der Finanzgebarung des öffentlichen Pensionssystems am 29.05.2021Verlängerung der Lebensarbeitszeit zu „retten“, um am Ende weniger Pension zu bekommen – überall in Europa das gleiche Lied. Die COESPE fordert daher die öffentliche Prüfung („Auditoria“) der Konten der öffentlichen Pensionsversicherung und die Rückerstattung der zweckentfremdet verwendeten Mittel an das Pensionssystem. Das ist hochexplosiv und stellt die gesamte Politik im Interesse des Finanzkapitals, die korrupten Institutionen der Monarchie, wer auch immer die Regierung stellt(e), in Frage. Denn der Druck des Kapitals ist enorm: die 140 Milliarden des sogenannten Wiederaufbaufonds der EU, die Spanien nach der Pandemie in Aussicht gestellt werden, sind an Bedingungen geknüpft, die genau in die entgegengesetzte Richtung gehen: „Reformen“ des Pensionssystems und des Arbeitsrechts, Privatisierungen, Kahlschlag der noch verbleibenden, bereits seit dem Eintritt in die EU 1986 zurechtgestutzten, Industrie.

Mit der „Auditoria“ kann der Nachweis erbracht werden, dass nicht die Pensionsversicherung Schulden beim Staat hat, sondern umgekehrt: der Staat schuldet der der Pensionsversicherung hunderte Milliarden! Der Beweis kann erbracht werden, dass das umlagenfinanzierte Pensionssystem sicher und nachhaltig ist. Im Übrigen sind die Sozialbeiträge laut Artikel 103 des Sozialversicherungsgesetzes „zweckgebunden“, d.h. sie dürfen nur für die Auszahlung z.B. der Pensionen verwendet werden. Die Pensionsversicherung hatte riesige Überschüsse, die als Reserve für Krisenzeiten wie 2008 oder auch heute gedacht waren. Die Rückzahlung dieser Sozialbeiträge an die Kasse der beitragszahlenden Lohnabhängigen, an die öffentliche Pensionsversicherung ist daher die zentrale Forderung der COESPE.

Außerdem gibt es den äußerst wichtigen Paragraphen 109 des Sozialversicherungsgesetzes. Dieser sieht vor, dass der Staat bei der Auszahlungen der Pensionen einspringt, falls die Einnahmen der Sozialversicherung nicht ausreichen – ähnlich wie bei der Einführung des ASVG in Österreich, bei welcher ein dauerhafter Staatszuschuss von einem Drittel vorgesehen war, was alle Politiker*innen heute scheinbar vergessen haben. So hat auch in Spanien Regierung nach Regierung diese Zuschüsse in „Kredite“ umgetauft, um Schulden des Staatshaushalts auf die Sozialversicherungen abzuwälzen, um die im Maastrichter Vertrags der EU von 1992 vorgesehenen maximal 3% Defizit pro Jahr einhalten zu können. Ebenfalls ähnlich wie in Österreich als eine buchhalterische Manipulation, ein Taschenspielertrick mit schweren Folgen für die Pensionsversicherung. Und jetzt will die Regierung diese äußerst wichtige Regelung, eine Errungenschaft der Arbeiter*innenbewegung in Spanien, abschaffen. Die COESPE tritt dem aufs Entschiedenste entgegen.

Diese hat daher seit Monaten eine breite Kampagne in Richtung der Bevölkerung und der Arbeiter*innenbewegung organisiert. Stück für Stück wurde die Einheit, von unten aufgebaut. Mehr als 200.000 Unterschriften für die „Auditoria“ und die Rückerstattung der Gelder sind bereits gesammelt worden – unter den schwierigen Bedingungen der Pandemie. Über 100 Gemeinderäte unterstützen die Forderungen; jede Woche kommen neue Gemeinden dazu. Unterstützung kam auch von einigen Teilorganisationen der Gewerkschaften UGT und CCOO (z.B. UGT Katalonien, UGT Pensionist*innen, CCOO Industriesektor von Madrid, CCOO Sevilla und anderen großen Städten). Bereits 15 Abgeordnete aus verschiedenen Parlamentsfraktionen unterstützen die Forderungen der COESPE. Am 12. Mai fand eine gemeinsame Pressekonferenz und Kundgebung der COESPE mit diesen Abgeordneten vor dem Parlament in Madrid statt.

Eine ganz besondere Bedeutung kommt dem Beschluss des Gewerkschaftstages der UGT für die öffentliche Prüfung der Pensionskassen Mitte Mai zu, da der Druck der Regierung auf die Gewerkschaften, gemeinsam mit dieser und den Unternehmensverbänden im „sozialen Dialog“ gemeinsam eine Verschlechterung des Pensionssystems auszuarbeiten und umzusetzen enorm ist. Dieser Beschluss bildet eine Verbindung zur organisierten Arbeiter*innenbewegung, die die (relative) Isolierung der Pensionist*innen durchbricht und gemeinsame Mobilisierungen von aktiven und ehemaligen Arbeiter*innen, also Pensionsist*innen, möglich macht.

Vergessen wir nicht: die etwa 300 lokalen Pensionist*innenkomitees – spanienweit zusammengeschlossen in der Koordination COESPE – sind erst 2018 entstanden, eben weil die Gewerkschaftsführungen sich weigerten, den Widerstand gegen die Pensions- und Arbeitsrechtsreformen der Jahre 2010 bis 2013 zu organisieren. In diesem Sinne erinnern die COESPE und ihr zentrales Motto „Wer auch immer regiert, die gesetzlichen Pensionen müssen verteidigt werden!“ eine Gruppierung an das politische Phänomen der Gelbwesten in Frankreich; sie ist eine Widerstandsbewegung von unten.

Die Regierung steht doppelt unter Druck: durch das Kapital und die Institutionen der reaktionären und korrupten Monarchie, der EU, die alle auf „Reformen“, d.h. massive Kürzungen und Einschnitte und vor allem die Privatisierung des Pensionssystems drängen, und auf der anderen Seite durch den Widerstand der Pensionsist*innen, die seit drei Jahren jede Woche auf der Straße sind. Ein erstes Zurückweichen deutet sich an: ohne auf die reaktionäre Pensionskonterreform zu verzichten (zu der sich die spanische Regierung im Gegenzug für die 140 Milliarden aus Brüssel verpflichtet hat) soll die Reform in zwei Wellen durchgeführt werden: „kleinere“ Korrekturen bis Ende 2021, der „dicke Brocken“ dann 2022, d.h. Einführung von Privatpensionen, die Abschaffung des o.g. Paragraphen usw.

Die Komitees der Pensionist*innen lassen nicht locker. Am 16. Oktober 2021, auf den Tag genau zwei Jahre nach der großen Demonstration der COESPE mit mehr als 60.000 Teilnehmer*innen in Madrid, ist eine weitere landesweite Großdemonstration in Madrid geplant, um die Kampagne für die „Auditoria“ zu jenen zu tragen, die zu diesem Zeitpunkt über die geplante Reform diskutieren werden – den Parlamentsabgeordneten: Pensionist*innen, Gewerkschafter*innen, Abgeordnete, Gemeinderät*innen, alle die die „Auditoria“ unterstützen, gemeinsam!

Tatsächlich sollten wir diesen Kampf europaweit führen, da die Abschaffung des umlagefinanzierten Pensionssystems fast in allen Ländern ein zentrales Element der Offensive des Kapitals, die mit allen sozialen Errungenschaften der Nachkriegszeit aufräumen will. Den „Errungenschaften von 1936 und 1945“, wie es kürzlich unumwunden und wörtlich ein führender Vertreter des französischen Kapitals und Vertrauter Macrons formuliert hat – stellvertretend für das gesamte Finanzkapital in Europa und den USA.

In Frankreich, wo nach zwei Monaten Streik und Pandemie die Pensionsreform vorläufig gestoppt wurde, wartet Macron nur auf den richtigen Zeitpunkt, um zum nächsten Schlag auszuholen. Bereits jetzt sickert durch, dass er das Pensionsantrittsalter sofort von 62 auf 64 Jahre erhöhen will. In Deutschland blasen die Vertreter*innen des Kapitals und ihre Lobbyist*innen im Vorfeld der Bundestagswahlen im Herbst ebenfalls zum Generalangriff auf das umlagenfinanzierte Pensionssystem und das Pensionsantrittsalter, welches durch Riester und Schröder’s Agenda 2010 ohnehin schon: „Rente mit 68“ (Wissenschaftlicher Beirat im Wirtschaftsministerium), „Rente mit 70“ (Institut der deutschen Wirtschaft), „Aktienrente“ (FDP), „Bürgerfonds“ (Grüne) lauten die Schlagworte in unserem Nachbarland.

Insofern ist es nicht weiter verwunderlich, dass gerade aus Frankreich und Deutschland Grußadressen an die Demonstrationen der COESPE am 29. Mai geschickt wurden, z.B. von den Pensionist*innen der Gewerkschaft FO in Paris, aus den Reihen der IG Metall und ver.di in Berlin und schließlich die Grußadresse des SENIORENAUFSTANDS (Auszug): „Ihr kämpft gegen die Angriffe auf euer Rentensystem und für die Rücknahme des TOLEDO-Paktes – wir kämpfen in Deutschland dafür, dass die sogenannten Rentenreformen zurückgenommen werden und gegen die AGENDA 2010-Gesetze – AGENDA 2010 ist unser TOLEDO. Insbesondere eure Forderung nach einer öffentlichen Prüfung der Rentenkassen ist für uns wichtig. Ihr wollt damit den Zugriff des spanischen Staates auf die Sozialversicherungskasse skandalisieren und rückgängig machen. Bei uns in Deutschland werden staatliche Leistungen, für die keine Beiträge geflossen sind, direkt aus den Rentenversicherungsbeiträgen bezahlt. Auch wir kämpfen dafür, dass dieser Raub endlich öffentlich gemacht und dann eingestellt wird.“

Frank Arnold, Paris

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