Eine Partei erwacht – ein Stück des Weges in der Sozialdemokratie gehen!

In den letzten Jahren wurde man aus traurigen und zum Teil beschämenden Anlässen wiederholt an Jura Soyfers Romanfragment „So starb eine Partei“ erinnert, an dem er 1934 bis 1937 gearbeitet hatte, bevor er am 16. Februar 1939 im Konzentrationslager Buchenwald starb. In den vergangenen Wochen und Monaten drängten sich diese Assoziationen und Erinnerungen viel zu oft auf. Die Unzufriedenheit an der Parteibasis war und ist schon länger groß. Inzwischen hat sich die Situation aber grundlegend verändert!

Die Partei und die Gesellschaft mit Demokratie durchfluten

Haus mit BaugerüstBruno Kreisky sprach davon, „die Gesellschaft mit Demokratie [zu] durchfluten.“ Seit erst Nikolaus Kowall und dann Andi Babler ihre Kandidaturen für die Mitgliederbefragung über die oder den künftigen Bundesparteivorsitzende*n der SPÖ bekanntgaben, hat die Parteibasis eine Welle der Demokratie und Mitbestimmung in Gang gesetzt, welche die erstarrten Strukturen unserer Partei durchflutet. Nikolaus Kowall hat seine Kandidatur zugunsten von Andi Babler zurückgezogen. Mehr als 9000 neue Mitglieder sind in die Partei eingetreten. Andi Babler konnte mit mehr als 2000 Unterstützungserklärungen für die Mitgliederbefragung mit Abstand die meisten Genoss*innen für seine Kandidatur mobilisieren.

Demokratische Mit- und Neugestaltung

Ein herausforderndes Stück des Weges liegt vor den bisherigen und den neuen Genoss*innen. Es kann nur in einer gemeinsamen Anstrengung der oder des neuen Parteivorsitzenden mit der Parteibasis bewältigt werden. Vor uns liegt die demokratische Mit- und Neugestaltung unserer Partei, um nach Jahren der politischen Standpunktlosigkeit, der Konzeptarmut und der Anbiederung an Neoliberalismus, Rechtspopulismus und Rassismus wieder Partei und Gesellschaft mit Demokratie zu durchfluten. Für die notwendige radikal solidarische und konsequent ökologische Umgestaltung von Politik und Gesellschaft braucht es das Engagement aller, die sich in und außerhalb der Partei an diesem Weg beteiligen und mitbestimmen möchten. Dafür braucht es auch eine klare Problemanalyse.

Politische Absence und mangelnde politische Konfliktfähigkeit

Blicken wir nochmals zurück in die jüngste Vergangenheit: Mitte März 2023 entschied die Niederösterreichische Volkspartei unter Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner, mit den Kellernazis der Niederösterreichischen FPÖ eine Koalition auf Landesebene zu bilden. Ein Unterstützungsprojekt für Langzeitarbeitslose hatte Mikl-Leitner und der ÖVP zuvor den Vorwand geboten, die Koalitionsverhandlungen mit der SPÖ abzubrechen. Kein Problem hatten sie dagegen mit einem Kniefall vor politischen Forderungen von Rechtsextremist*innen und Coronaleugner*innen. Oskar Deutsch übte als Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Wien schärfste Kritik an dieser Vorgehensweise: „Die FPÖ Niederösterreich ist aufgrund ihrer Mandatare, die mehr oder weniger fast alle Kellernazis sind, eine ganz spezielle.“ Er forderte die ÖVP dringend zur Umkehr und zur Rückkehr an den Verhandlungstisch mit der SPÖ auf.1 Die Kritik der SPÖ auf Bundes- und Landesebene am Vorgehen der ÖVP und an diesem weiteren Eskalationsschritt der Demokratiegefährdung blieb dagegen verhalten. Die Partei war gerade wieder einmal mit sich selbst beschäftigt und bot die perfekte politische und mediale Ablenkung vom niederösterreichischen Demokratiedesaster.

Käthe Leichter vergessen machen

Auch bei einem vorangehenden türkisen Anschlag auf Demokratie und Antifaschismus verhielt sich die SPÖ, nach ersten zeitnahen kritischen Stellungnahmen, irritierend still und nahm die politische Aggression bald als vollendete Tatsache hin. Susanne Raab, Bundesministerin für Frauen, Familie, Integration und Medien, hat Ende 2022 den Käthe Leichter-Staatspreis für Frauenforschung, Geschlechterforschung und Gleichstellung in der Arbeitswelt, abgeschafft, und vier weitere Käthe Leichter-Preise, die von einzelnen Bundesministerien verliehen wurden, in allgemeine „Frauenpreise“ umgewandelt. Der Preis war 1991 auf Initiative des Historikers Herbert Steiner von Frauenministerin Johanna Dohnal gemeinsam mit anderen ins Leben gerufen worden. Die Arbeiterkammer, die Mitglieder der Jury und sehr viele ehemalige Preisträgerinnen reagierten mit scharfem Protest auf die Abschaffung.2 Käthe Leichter war Sozialwissenschaftlerin, Sozialdemokratin und 1925-1934 erste Leiterin des Referats für Frauenarbeit der Wiener Arbeiterkammer. Sie wurde 1942 als Jüdin und politische Aktivistin von den Nationalsozialist*innen in Bernburg/Saale ermordet.3 Der Vorgang, ein Opfer der Shoah aus dem kollektiven Gedächtnis tilgen zu wollen, weil sie Sozialdemokratin und Kämpferin für Frauenrechte war, scheint in der jüngeren Geschichte der 2. Republik beispiellos, mit Ausnahme einiger Jahre der Regierungen Schüssel I und II Anfang der 2000er Jahre, in denen der Preis unter der Ägide des freiheitlichen Frauenministers Herbert Haupt nicht vergeben wurde.4 Es bleibt unbegreiflich, wie die SPÖ den Versuch, die Erinnerung an Käthe Leichter, die ihr Leben in den Dienst der Partei gestellt hatte, auszulöschen, so hinnehmen konnte und kann.

Verlust an politischer Durchsetzungs- und Kampffähigkeit im Bündnis mit den Gewerkschaften

Ein Beispiel für die weitgehende politische Absence der SPÖ aus jüngster Zeit: Mit 1. April 2023 werden die neuen Mietrichtwerte um 8,6 Prozent erhöht. Der Caritas-Direktor der Erzdiözese Wien, Klaus Schwertner, kritisierte das als „existenzbedrohend“ für viele Menschen. Bereits im Vorjahr ist die Zahl der Delogierungen um knapp 20 Prozent gestiegen.5 Die türkis-grüne Bundesregierung konnte sich aufgrund des Widerstands der ÖVP nicht auf eine Mietpreisbremse einigen. Stattdessen wurde ein vergleichsweise geringer Wohnkostenzuschuss als Einmalzahlung für finanziell schwache Haushalte beschlossen, finanziert mit 225 Millionen Euro Steuergeld, der nach Kriterien der Länder ausbezahlt wird6 und den Mieter*innen kaum etwas bringt, da sie im Gegensatz zu einer Mietpreisbremse dauerhaft höhere Mieten zahlen müssen. Nach den auch vom Rechnungshof kritisierten vielfachen Überförderungen von Unternehmen durch die sog. Covid-Hilfen nun eine weitere steuergeldfinanzierte Unterstützung für Immobilienbesitzer*innen.7 Gewerkschaften, Arbeiterkammern und SPÖ fanden zwar scharfe Worte des Protestes. Darüber hinausgehende politische Kampfformen im Bündnis von Partei und Gewerkschaften, NGOs und der Zivilgesellschaft, die der für viele Menschen inzwischen existenzbedrohenden Situation angemessen wären, wurden, zumindest öffentlich, bisher nicht einmal in Erwägung gezogen. Eine immer größere Zahl von Menschen fürchtet inzwischen Armut, Kinderarmut und Wohnungsverlust. Und die SPÖ war und ist wieder einmal mit sich selbst beschäftigt. Die gegenwärtigen Protestbewegungen in Frankreich und Israel zeigen, wie es auch anders gehen kann!

Fehlende politische Expertise zur solidarischen und ökologischen Umgestaltung der Gesellschaft

Für die Durchsetzung politischer Ziele braucht es fundierte Konzepte. Als neugewählter Vorsitzender der SPÖ versammelte Bruno Kreisky schon in den Jahren als Oppositionsführer ab 1967 seine berühmt gewordenen „1.000 Experten“ um sich, heute würde er sicher von Expert*innen sprechen, um Vorschläge und ein Programm für ein modernes Österreich zu erarbeiten.8 Der gegenwärtigen SPÖ fehlen glaubwürdige Konzepte für einen konsequenten solidarischen und ökologischen Umbau der Gesellschaft, die politische Antworten auf Armutsgefährdung, wachsende soziale Ungleichheit, die fortschreitende Ausgrenzung von Menschen und die drohende Klimakatastrophe geben. Um es wieder nur an einem Beispiel fest zu machen: Im August 2022 forderte Pamela Rendi-Wagner für die Bundes-SPÖ in einem erweiterten Antiteuerungspaket die vorübergehende Senkung der Mehrwertsteuer nicht nur auf Grundnahrungsmittel, sondern generell auf lebensnotwendige Güter. Sie wurde dabei von Ex-Nationalbank-Gouverneur Ewald Nowotny unterstützt.9

Trotz dessen Expertise fehlen diesen kurzfristigen Forderungen der SPÖ langfristige Perspektiven, ökologische Steuermechanismen und soziale Differenzierung. Ökologische Probleme und die soziale Ungleichheit werden so vertieft. Zudem sind diese Forderungen dazu angetan, anstatt preissenkend zu wirken, als zusätzliche Gewinnmargen bei den Unternehmen zu landen (Gustav Horn).10 Stattdessen fordern Ökonom*innen der Arbeiterkammer wie Markus Marterbauer, der auch Vizepräsident des Fiskalrates ist, angesichts der fortschreitenden Inflation konsequente und sozial differenzierte sozialpolitische Maßnahmen, die zuallererst den Ärmsten helfen, sowie Gewinn-, Erbschafts- und Vermögenssteuern.11

Sozial, ökonomisch und ökologisch fundierte Veränderungsperspektiven kommen auch von den Expert*innen des ÖGB oder von Barbara Blaha und den Mitarbeiter*innen des Momentum-Instituts. Doch ihnen bleibt der Zugang zur Programmatik und politischen Praxis der SPÖ offenbar weitgehend verwehrt. Es ist bedrückend, wenn die SPÖ in ihren politischen Forderungen von nicht gerade linken Expert*innen wie Gabriel Felbermayr, Direktor des WIFO, oder Christoph Badelt, derzeit Präsident des Fiskalrates, links überholt wird, die zu geringe Anstrengungen der Bundesregierung zur Inflationsbekämpfung und mangelnde soziale Differenzierung der Maßnahmen kritisieren. Christoph Badelt wandte sich auch scharf gegen Pläne von Bundeskanzler Nehammer, die volle Berechtigung auf Sozialleistungen nur jenen zu gewähren, die durchgehend fünf Jahre in Österreich leben.12

Fehlende Solidarität und Anbiederung an den Rechtspopulismus

Während die politische Expertise in erschreckendem Ausmaß fehlt, liefern sich Hans Peter Doskozil, Pamela Rendi-Wagner und andere währenddessen einen für die Partei desaströsen und existenzgefährdenden Wettkampf im Rechtsblinken UND Rechtsüberholen bei der politischen Instrumentalisierung der Themen Flucht und Migration. Von Expert*innen lassen sie sich in ihren rechtspopulistischen Forderungen, wie z.B. jener nach Asylverfahren außerhalb der Europäischen Union, die auch Teil des 2018 von Hans Peter Doskozil und Peter Kaiser erarbeiteten und danach vom SPÖ-Bundesparteitag beschlossenen Maßnahmen-Plans für die Bereiche Flucht, Asyl, Migration und Integration war und ist, nicht beirren.

Sie benützen, ebenso wie blaue und türkise Politiker*innen, ebenso wie andere europäische Politiker*innen, „Geflüchtete als Verhandlungsmasse“ (Judith Kohlenberger).13 Pamela Rendi-Wagner hat ihre dahingehenden Argumentation im Jänner 2023 weiter verschärft, indem sie den rechten und rechtsextremen Diskurs von der „irregulären Migration“ im Blick auf flüchtende und asylsuchende Menschen übernahm und forderte, „wir müssen irreguläre Migration reduzieren, wir müssen sie verhindern.“14 Siehe dazu „Wofür steht die SPÖ? Eine Alternative zu Türkis-Blau oder Blau-Türkis?15

Demokratiedefizite – Mitgliederbefragung als „unverbindliches Meinungsbild“ – Furcht vor der Basis

Wenn es noch eines Beweises bedurft hat, dass die gegenwärtige Parteiführung – Parteivorsitzende, Bundesgeschäftsführer, Parteivorstand – in ihrer derzeitigen Besetzung und Interaktion außerstande ist, den gegenwärtig drängenden Aufgaben gerecht zu werden, dann ist es die Organisation der jetzt beschlossenen Mitgliederbefragung. Nachdem aus dem seit Jahren politisch destruktiv ausgetragenen Konflikt um den Parteivorsitz zwischen Hans Peter Doskozil und der derzeitigen Vorsitzenden Pamela Rendi-Wagner der Ausweg in Form einer Mitgliederbefragung gesucht und beschlossen wurde, nehmen Unbehagen und Aufruhr an der Parteibasis die Gestalt eines demokratischen Aufbruchs an.

Die über all die Jahre und Parteikrisen hinweg aktiv gebliebene Parteibasis hält nicht mehr still. Nikolaus Kowall, langjähriger Leiter der Sektion 8 und stellvertretender Vorsitzender der SPÖ Alsergrund, hat mit der rechtzeitigen Bekanntgabe seiner Kandidatur um den Parteivorsitz am 21. März 2023, vor der Sitzung des Parteipräsidiums am 22. März, fast schon erzwungen, dass andere Bewerber*innen um den Parteivorsitz zur Mitgliederbefragung zugelassen wurden. Seit Andi Babler am 23. März dann seine Kandidatur um den Parteivorsitz bekanntgegeben hat, und Nikolaus Kowall seine aus Solidarität zurückzog, um einen gemeinsamen Aufbruch von der Parteibasis aus zu ermöglichen, geht eine Welle der Hoffnung und der Zuversicht durch unsere Partei. In den ersten Tagen nach der Bekanntgabe des Beschlusses zu einer Mitgliederbefragung war von einigen hundert neuen Parteimitgliedern die Rede.16 Die meisten der 9.000 neuen Mitglieder dürften der SPÖ beigetreten sein, nachdem Kowall und dann Babler ihre Kandidaturen bekanntgegeben hatten! Wann gab es in den letzten Jahren je eine so starke Bewegung der Erneuerung in unserer Partei?

Doch der Bundesparteivorstand der SPÖ scheint diesen Aufbruch der alten und neuen Parteibasis für eine grundlegende Erneuerung der SPÖ und ihrer Politiken mehr als Bedrohung denn als Chance wahrzunehmen. Das kommt in den Beschlüssen und Stellungnahmen zur Mitgliederbefragung klar zum Ausdruck. Die Mitgliederbefragung wird auf ein unverbindliches Meinungsbild vor dem für 3. Juni 2023 geplanten außerordentlichen Bundesparteitag reduziert. Die Form der Fragestellung auf dem Stimmzettel zur Mitgliederbefragung bevorzugt Pamela Rendi-Wagner und Hans Peter Doskozil, die auch den anderen Bewerber*innen um den Parteivorsitz vorangestellt werden.

Andreas Babler wird laut Beschluss des Bundesparteivorstandes irgendwo weiter hinten im Bewerber*innen-Feld aufscheinen: „Gereiht wird nicht, wie es anfangs zur Diskussion stand, nach der Funktionshöhe, sondern nach Einlangen der Bewerbungen. Sprich: Babler wird irgendwo weiter hinten, zwischen einfachen Mitgliedern, versteckt.“17 Eine Stichwahl der Mitglieder zwischen den zwei stimmenstärksten Bewerber*innen bei der Mitgliederbefragung soll es laut Beschluss des Bundesparteivorstandes nicht geben.

Wer solche Beschlüsse fasst, der muss sehr viel Angst vor der Parteibasis haben! Andi Babler hat diese Vorgehensweise deutlich kritisiert und die demokratischen Defizite des beschlossenen Abstimmungsverfahrens präzise auf den Punkt gebracht: wenn „das Argument sein soll, dass der erste Wahlgang zählt, dann wäre Norbert Hofer 2016 Bundespräsident geworden.“ Babler geht davon aus, dass es bei einem knappen Ergebnis der Mitgliederbefragung, entgegen den derzeitigen Beschlüssen des Parteivorstandes, auch zu einer Stichwahl kommen wird und muss.18

Historische Hypotheken – Demokratiedefizit und Rechtsdrall

Die Verantwortung für die hier beschriebenen politischen Defizite in der politischen Programmatik und Praxis der SPÖ tragen – abgesehen von den destruktiven Modi der personalpolitischen Konfliktaustragung – nur zu einem geringen Teil Hans Peter Doskozil oder Pamela Rendi-Wagner. Innerparteiliche Reformen hin zu mehr Demokratie und Mitbestimmung der Parteibasis wurden über Jahrzehnte hinausgeschoben oder wieder zurück genommen, zuletzt die von Christian Kern angestoßene Parteireform. Aus seiner Sicht ist „das Konzept Erneuerung […] nach meinem Abgang schnell einkassiert […], die Parteireform auf Druck des Parteiestablishments eingestampft, das neue Programm schubladisiert“ worden.19

Auch der fortgesetzte Rechtsdrall der SPÖ in den letzten Jahren ist nicht alleine Hans Peter Doskozil, Pamela Rendi-Wagner und anderen gegenwärtigen Repräsentant*innen unserer Partei anzulasten. Er lässt sich in der Geschichte der Partei mittelfristig bis in die Jahre seit 1986, als Jörg Haider Bundesparteiobmann der FPÖ wurde, zurückverfolgen. Diese Hingezogenheit nach rechts erinnert an Thomas Manns 1930 erstmals veröffentlichte Novelle „Mario und der Zauberer. Ein tragisches Reiseerlebnis“, die auch als Auseinandersetzung mit dem italienischen Faschismus gelesen werden kann. Trotz einer Vielzahl von kleinen und größeren Diskriminierungen, die der Ich-Erzähler und dessen Familie an ihrem imaginären Italienischen Urlaubsort Torre di Venere in diesem Jahr bereits erlebt haben, auch „Merkwürdigkeit, Nichtgeheuerlichkeit und Gespanntheit“, können sie sich an einem Abend zu Beginn der Nachsaison der Faszination des Zauberers Cavaliere Cipolla nicht entziehen: „Unfehlbar werden Sie mich fragen, warum wir nicht endlich weggegangen seien, – und ich muß ihnen die Antwort schuldig bleiben. […] und da wir im großen nicht »abgereist« waren, wäre es unlogisch gewesen, es sozusagen im kleinen zu tun. Nehmen Sie das als Erklärung unserer Seßhaftigkeit an oder nicht! Etwas Besseres weiß ich einfach nicht vorzubringen.“20

In längerfristiger Perspektive reichen die bis in die Gegenwart wirkenden historischen Erfahrungen hin zur Geschichte der Ersten Republik, des Austrofaschismus, des Nationalsozialismus und der Wiederbegründung der SPÖ 1945 als „Sozialistische Partei Österreichs (Sozialdemokraten und Revolutionäre Sozialisten)“. In der SPÖ in den Jahren nach 1945 fanden sich die wenigen überlebenden und zurückgekehrten Emigrant*innen und Revolutionären Sozialist*innen im Zug des Kalten Krieges bald in marginalisierten Positionen wieder, während die SPÖ auch ehemaligen Nationalsozialist*innen für ihre Karrieren offenstand. Auch Bruno Kreisky war von der Partei nicht zur Rückkehr aus dem schwedischen Exil nach Österreich eingeladen worden. Zugleich verkörperte er mit seinen späteren politischen Naheverhältnissen zu ehemaligen Nationalsozialist*innen in und außerhalb der SPÖ und seinen Herabwürdigungen von Simon Wiesenthal die Ambivalenz der SPÖ im Umgang mit nationalsozialistischen Kontinuitätsproblematiken.21

Resümee und Ausblick – „wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ (Hölderlin)

Angesichts des weitgehenden Versagens der SPÖ auf Bundesebene als Oppositionspartei ist es nur folgerichtig, dass unsere Partei auf Bundes- und Landesebene bisher weder Glaubwürdigkeit noch Wahlerfolge in der Auseinandersetzung mit den katastrophalen Folgen türkiser und blauer Regierungsbeteiligungen auf Bundesebene seit Dezember 2017 erringen konnte. Korruption, Politik- und Medienkauf haben seit 2017 ein in der 2. Republik, mit Ausnahme der Affären Krauland22 und Grasser, nie dagewesenes Ausmaß erreicht und werden die Gerichte noch über Jahre und Jahrzehnte beschäftigen. Auch das kontinuierliche und kompetente Engagement von Jan Krainer und anderer Abgeordneter im ÖVP-Korruptions-Untersuchungsausschuss konnte dieses Glaubwürdigkeitsproblem der SPÖ über die Jahre nicht wettmachen.

Rassismus und Rechtsextremismus sind mit Sebastian Kurz als Bundeskanzler der türkis-blauen Koalition zu einem integralen Teil der politischen Mitte geworden. Inzwischen konkurrieren in Österreich auf Bundes- und Landesebene zwei rechtsextreme Parteien, die FPÖ und die türkise ÖVP. Die sozialen und wirtschaftlichen Probleme infolge der Corona-Pandemie, infolge des russischen Angriffskrieges in der Ukraine, infolge extrem gestiegener Energiepreise und infolge der in Österreich überdurchschnittlich steigenden Inflation bleiben durch das Versagen der wechselnden türkis angeführten Bundesregierungen vielfach ungelöst.

Und die SPÖ scheint, wenn sie nicht gerade mit sich selbst beschäftigt ist, oft mehr damit beschäftigt, rechts zur türkisen ÖVP oder zur FPÖ aufzuschließen, als konsequente und harte Oppositionsarbeit zu leisten, die auch politische Kampfmaßnahmen im Bündnis mit den Gewerkschaften nicht ausschließt. Eine Rückkehr zum Modell der Sozialpartnerschaft erscheint derzeit weitgehend ausgeschlossen und auch nicht wünschenswert, solange für eine türkise ÖVP ein erfolgreich erprobtes und international wissenschaftlich evaluiertes Unterstützungsprojekt für Langzeitarbeitslose in Niederösterreich, nicht aber Rassismus und Rechtsextremismus, eine unüberwindliche Hürde für eine Zusammenarbeit darstellen.

Die fossilen, rassistischen und rückwärtsgewandten Utopien von FPÖ und ÖVP – wie zuletzt von Bundeskanzler Nehammer in seiner Rede zur angeblichen „Zukunft der Nation“ zugespitzt artikuliert23 – gefährden die Zukunft der jetzt lebenden und der zukünftigen Generationen existenziell. Im Bündnis mit diesen politischen Vorstellungen können wir die kommende Welt nicht bauen. Mit einer demokratisch erneuerten, wieder handlungsfähigen und bei Wahlen gestärkten SPÖ besteht im Bündnis mit den sozialen und ökologischen Bewegungen, insbesondere mit den unterschiedlichen Gruppierungen der Klimaschutzbewegung, sowie der Zivilgesellschaft und allen Menschen, die die existenziell notwendigen solidarischen und ökologischen Umgestaltungsprozesse in Österreich, in der EU und weltweit unterstützen, die reale Chance zu einer wirklichen politischen Veränderung.

Dafür braucht es eine starke und demokratisch erneuerte SPÖ! Gegen das Versagen der Parteiführung, gegen das weitreichende Versagen der SPÖ als Oppositionspartei und gegen die mangelnden Möglichkeiten der demokratischen Mitbestimmung formiert sich an vielen Orten und bei vielen Genoss*innen Widerstand.24 Keine neue Vorsitzende, kein neuer Vorsitzender kann alleine die erstarrten und einer Partei des 21. Jahrhunderts nicht mehr entsprechenden innerparteilichen Strukturen und Kulturen der SPÖ aufbrechen.

Mit der Basisbewegung alter und neuer Genoss*innen, die die Kandidatur des Traiskirchner Bürgermeisters Andi Babler zum Bundesparteivorsitzenden der SPÖ trägt, besteht eine Chance zu einem wirklichen demokratischen Aufbruch in und außerhalb der Partei und zur solidarischen und ökologischen Umgestaltung der Gesellschaft. Kommunale Politik als Modell für überregionale Politikfelder hat in der Österreichischen Sozialdemokratie eine große Tradition. Es liegt an uns, diese Chance zur Erneuerung unserer Partei und der Politiken in diesem Land wahrzunehmen. Freundschaft!

1 https://noe.orf.at/stories/3199408/ (letzter Zugriff 31.03.2023).

6 https://orf.at/stories/3309768/ (letzter Zugriff 01.04.2023).

8 Kreisky. Fotos und Dokumente im Österreichischen Staatsarchiv. Katalog zur Ausstellung, Wien 2010, o. S. https://androsch.com/media/geschriebenes/KREISKY%20Katalog.pdf (letzter Zugriff 02.04.2023).

15 Siehe dazu hier aufwiderstand: Werner Lausecker, Wofür steht die SPÖ? Eine Alternative zu Türkis-Blau oder Blau-Türkis? https://www.aufwiderstand.at/wofuer-steht-die-spoe-eine-alternative-zu-tuerkis-blau-oder-blau-tuerkis/ (letzter Zugriff 31.03.2023).

17 Oona Kroisleitner, Sandra Schieder, Machtkampf. Babler will Stichwahl, sollte bei SPÖ-Befragung niemand mehr als 50 Prozent erhalten, Der Standard, 28.03.2023 https://www.derstandard.at/story/2000144965994/wie-rendi-wagner-doskozil-und-eine-giraffe-um-den-spoe (letzter Zugriff 31.03.2023).

20 Thomas Mann, Mario und der Zauberer. Ein tragisches Reiseerlebnis“, In: Ders., Tonio Kröger. Mario und der Zauberer, Frankfurt am Main, 1996, 75-128, hier: 111-112.

21 Fritz Weber, Der kalte Krieg in der SPÖ, Wien, 2. Erg. Aufl., 2011. Danke Gerhard Zahler-Treiber für den Literaturhinweis; Wolfgang Neugebauer, Peter Schwarz, Der Wille zum aufrechten Gang. Offenlegung der Rolle des BSA bei der gesellschaftlichen Integration ehemaliger Nationalsozialisten, hgg. vom Bund sozialdemokratischer AkademikerInnen, Intellektueller und KünstlerInnen (BSA), Wien, 2004; Maria Mesner (Hg.), Entnazifizierung zwischen politischem Anspruch, Parteienkonkurrenz und Kaltem Krieg. Das Beispiel der SPÖ, Wien, 2005; Bruno Kreisky, Zwischen den Zeiten. Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten. Berlin 1986.

24 Die Initiative „Die Basis brennt – für Mitbestimmung & eine Zeitenwende in der SPÖ!“ ist ein starkes Zeichen dafür. https://www.change.org/p/die-basis-brennt-f%C3%BCr-mitbestimmung-eine-zeitenwende-in-der-sp%C3%B6?redirect=false (letzter Zugriff 31.03.2023).

2 Kommentare

    • Ludwig Brunner auf 4. April 2023 bei 10:58
    • Antworten

    Ziemlich viele reformistische Illusionen. Das kenne ich von euch sonst so gar nicht. Schon im Titel die Kreisky-Formulierung, die letztlich Bürgerliche dazu eingeladen hat, in die SPÖ zu kommen und damit die Basis dafür gelegt hat, dass sie die Partei mit ihrer intellektuellen und finanziellen Übermacht noch weiter verbürgerlichen konnten. Und dann keine klare Ablehnung der SozialpartnerInnenschaft, dieser Fessel des Klassenkampfes, die ich sonst von euch gewohnt bin. Ich bin irrtiert.

    1. Im Gegensatz zu anderen halten wir diverse Meinungen in unseren Reihen gut aus. Wenn ein Artikel auf unserer Website Diskussionen auslöst: Wunderbar! Es ist ja genau die Angst vor Diskussionen – wir würden sogar Diskussionsfeindlichkeit sagen, welche die heutige ideologie- und theoriebefreite sowie entsozialdemokratisierte SPÖ hervorgebracht haben.

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