Sozialismus oder Barbarei

Eine Replik auf den reflektive-Artikel „Können Demokratie und Menschenrechte ‚verfassungskonform‘ abgeschafft werden?“ und ein Plädoyer für eine radikale Sicht auf das bürgerliche Recht.

Die letzten Wochen waren gezeichnet durch die Diskussion über Menschenrechte und deren Infragestellung durch Herbert Kickl. Ob Politik Recht setzen darf und ob das Recht der Politik folgen muss. Der reflektive-Artikel „Können Demokratie und Menschenrechte ‚verfassungskonform‘ abgeschafft werden?“ – (Spoiler! … Ja) – plädiert für eine Stärkung bürgerlicher Rechte und lässt dabei vollkommen außer Acht, dass Rechtsextremismus und Faschismus extreme Ausformungen bürgerlicher Gesellschaften sind.

Schon Isidor Ingwer legte die Problematik des bürgerlichen Rechts und der Menschenrechte schonungslos offen. Geboren am 1. Februar 1866 in Tarnopol, Galizien, ermordet am 22. Juli 1942 im Konzentrationslager Theresienstadt, galt Ingwer als „Jurist der Arbeiterklasse“ und als Anwalt der frühen österreichischen Sozialdemokratie. Isidor Ingwer 1889: „Ja sogar unser allgemeines bürgerliches Gesetzbuch ist schon von den Ideen der französischen Revolution infiziert. § 16 erklärt ganz pathetisch: ‚Jeder Mensch hat angeborene, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte…‘ Würde man aber den Menschen alle ihnen angeborenen, schon durch die Vernunft einleuchtenden Rechte lassen, dann wäre die heutige Gesellschaft- und Wirtschaftsordnung – gewesen. Daran sieht man, welchen höchst problematischen Wert die bloße Verkündigung der diversen Menschenrechte hat.“

Die täglich gelebte Undemokratie und (Menschen)Rechtslosigkeit in Betrieben

Blickt man heute in Betriebe ist von Demokratie und Menschenrechte nur wenig zu bemerken. Betriebe werden autoritärer geführt, die Betriebshierarchie ist eindeutig, Widerspruch wird nur selten geduldet. Die Hierarchie wird absolut durch den BetriebsinhaberIn auf Basis des freien Vertragsrechts bestimmt. Die, die die Waren produzieren, die ArbeitnehmerInnen, sind dieser gesetzten Hierarchie schutzlos ausgesetzt. Ein Kündigungsschutz ist – vor allem in Österreich – kaum vorhanden. Einzig der Betriebsrat wird hier als außerhalb dieser Betriebshierarchie angesiedelt und kann mäßigend eingreifen. Aber auch der Betriebsrat hat keinen Einfluss auf das freie Vertragsrecht und daher auf die Unternehmenshierarchie selbst.

Wer freie Rede – ein hohes Gut der Menschenrechte – im Betrieb übt, riskiert seine „Treuepflicht“ zu verletzten. Ein Entlassungsgrund. Die Treuepflicht (Fremdinteressen-wahrungspflicht) gehört zu den Nebenpflichten von ArbeitnehmerInnen, die sie dazu anhält, auf betriebliche Interessen des Arbeitgebers entsprechend Rücksicht zu nehmen. ArbeitnehmerInnen dürfen selbst außerdienstlich kein Verhalten setzen, das erkennbaren Betriebsinteressen widerspricht. Ein unbedachtes Posting oder auch nur Likes auf Facebook sind unter Umständen ausreichend, um eine „Vertrauensverwirkung“ beim ArbeitgeberIn zu erwirken und eine Entlassung zu rechtfertigen. Außerdienstliche (also private) Verhaltensweisen können sogar für Betriebsratsmitglieder eine Entlassung bedeuten. Wenn sich eine ausreichende Verbindung zum Arbeitsverhältnis herstellen lässt, sodass ein Rückschluss oder eine Auswirkung auf das Ansehen des Arbeitgebers naheliegt. Selbst der Schutz des Lebens wird in Betrieben elastischer ausgelegt: Gelten für die Zivilbevölkerung strenge Grenzwerte radioaktiver Strahlung oder chemischer Schadstoffe, gelten für ArbeitnehmerInnen höhere Grenzwerte.

In der Welt der Betriebe scheint die Zeit vor dem 1. Jänner 1812 stehen geblieben zu sein, als das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (ABGB) in Kraft getreten ist. Dessen § 16 allen Menschen „angeborene, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte“ verspricht und in Betrieben doch nur leerer Pathos ist.

Das Unrecht in dieser Welt

Diese Undemokratie und die fehlende Allgemeingültigkeit der Menschenrechte in Betrieb und Wirtschaftsleben haben ihren Ursprung im fundamentalen Kern der bürgerlichen Gesetzgebung: Dem Privateigentum an Produktionsmitteln. Karl Marx bezeichnete die ArbeitnehmerInnen nach der bürgerlichen Revolution als „doppeltfreie Lohnarbeiter“ und verweist damit auf den Doppelcharakter der bürgerlichen Freiheit: „Frei“ die Arbeitskraft zu verkaufen und „frei“ von Eigentum an Produktionsmitteln. Durch den Wegfall feudalistischer und ständischer Bestimmungen erlangten die ArbeiterInnen bürgerliche Freiheiten, verloren aber gleichzeitig auch das Eigentum an Produktionsmitteln.

Der Übergang zum Kapitalismus. Wie entstand nun das Eigentum an Produktionsmitteln? Noch in der Hochzeit des Feudalismus entwickelten sich die Machtverhältnisse, die uns später im Kapitalismus begegnen. Manufakturen waren die Vorläufer der Fabriken. Die Arbeit wurde – im Gegensatz zur späteren Fabrik – noch ohne maschinelle Ausrüstung, aber bereits in sequentieller Arbeitsteilung geleistet. Und hier begann die bei Marx sogenannte „ursprüngliche Akkumulation“, die „nichts anderes als der historische Scheidungsprozess von Produzent und Produktionsmittel“ war. (Karl Marx, MEW Band 23, S. 742)

Gefördert wurde die Entwicklung in England durch die massenhafte gewaltsame Enteignung der Bauern von Grund und Boden und durch die Auflösung feudaler Gefolgschaft. Die neu entstandenen Manufakturen konnten die große Anzahl an Menschen nicht aufnehmen – Bettelei, Raub und „Vagabundentum“ waren an der Tagesordnung. Dagegen reagierte die Gesetzgebung mit sogenannten „Blutgesetzen“, sie sollten die Menschen zur Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen zwingen und die kapitalistische Arbeitsdisziplin durchsetzen. Die Strafen reichten von Auspeitschung, Brandmarkung bis hin zur Hinrichtung. Unter Heinrich den VIII. wurden über 70.000 „Vagabunden“ hingerichtet. Von Grund und Boden gewaltsam Verjagte wurden durch Terrorgesetze in ein System der Lohnarbeit notwendigen Disziplin hineingepeitscht, gebrandmarkt und gefoltert. In anderen Staaten vollzog sich der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus davon unterschiedlich, hier waren es oftmals die Feudalherren selbst, die ihre feudale Macht in kapitalistische Macht umwandelten und die Manufakturen betrieben.

Folgend eine Darstellung des Argumentationsgangs im „Kapital“, die folgenden Abschnittsüberschriften tragen die Titel der ihr entsprechenden Abschnitte im „Kapital“. – (c) gemeinfrei

Fortgeschriebenes Unrecht. Egal wie man es dreht und wendet, die Wirtschaftsweise wie sie heute funktioniert, basiert auf Unrecht. Auf geraubten Eigentum und auf drakonische Strafen zur Disziplinierung der zukünftigen ArbeiterInnen. Ohne Eigentum, waren ArbeiterInnen gezwungen das einzige zu verkaufen, das sie besaßen – ihre Arbeitskraft. In dem es eine raubende eigentumsbesitzende und beraubte eigentumslose Klasse entstand, wurde Geld somit zum Kommandomittel über die menschliche Arbeit.

Dieses Unrecht wurde in den ersten bürgerlichen Gesetzgebungen festgeschrieben. So auch im österreichischen ABGB und folgend in den Menschenrechtserklärungen. Der bürgerliche Gesetzgeber schrieb den Schutz des Eigentums – und damit auch den Schutz des Eigentums an Produktionsmitteln – mit dem Blut der Beraubten und Gefolterten.

Das jeweils herrschende Recht ist eben stets nichts anderes als das Recht der herrschenden Klasse. Oder wie es im Kommunistichen Manifest allgemeiner ausgedrückt wird:

„Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse.“ – Marx/Engels

Rosinentheorie

In der Conclusio des ersten Teils des Artikels zu „Können Demokratie und Menschenrechte ‚verfassungskonform‘ abgeschafft werden?“ kommt der Autor zur folgenden Erkenntnis: „Der Verfassungsgerichtshof nimmt an, dass auch eine Volksabstimmung nicht dazu ermächtigen würde, das Rechtsstaatsprinzip außer Kraft zu setzen“ und zitiert dabei aus einer Erkenntnis des VfGH, wonach es zum Inhalt des qualifizierten Verfassungsrechts gehört, dass es nicht dazu ermächtigt, sich selbst auszuschalten. Hier irrt der Autor.

Der VfGH führt im gleichen Entscheid aus, dass er eben nicht annimmt, dass das Rechtsstaatsprinzip niemals außer Kraft gesetzt werden kann. Vielmehr geht der VfGH davon aus, dass „das Prinzip der Maßgeblichkeit der Verfassung […] ebenso wie ‚die Zuständigkeit des Verfassungsgerichtshofes zur Normenkontrolle als zentrales Element des rechtsstaatlichen Baugesetzes der österreichischen Bundesverfassung‘ anzusehen“ ist. Und „derartige Grundsätze […] in ihrem Kern dem Verfassungsgesetzgeber im Sinne des Art44 Abs1 B-VG nicht zur beliebigen Disposition stehen“ dürfen.

Der VfGH bestimmt somit das „rechtsstaatliche Prinzip“ zu einem Bausatz der Verfassung, die der Verfassungsgesetzgeber nicht beliebig abändern kann. Mit der Begriffsverwendung des „Bausatzes“ zeigt der VfGH auf, wie das rechtsstaatliche Prinzip aufgehoben werden kann. Eben nicht allein durch ein im Nationalrat beschlossenes Verfassungsgesetz (Art 44 Abs 1 B-VG), aber durch eine „Gesamtänderung der Bundesverfassung“ nach Art 44 Abs 3 B-VG. Diese erfordert eine qualifizierte zwei Drittel Mehrheit und eine Volksabstimmung (siehe dazu auch folgend zu „pouvoir constituant“).

”Ewigkeitsklausel“

In dem reflektive-Artikel plädiert der Autor im letzten Teil abschließend für eine „Ewigkeitsklausel“ nach deutschem Vorbild – mit Ewigkeitsklausel ist gemeint, dass einige Bestimmungen, die im deutschen Grundgesetz festgelegt sind, niemals aufgehoben werden können. Sie sind “ewig“, das heißt, sie sind wirksam, solange das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland gilt. Offenbar hofft der Autor, damit Demokratie und Menschenrechte nachhaltig zu schützen. Die Ewigkeitsklausel wird als „eine fast logische Konsequenz auf die Position der FPÖ, des Innenministers und seiner ideologischen HelfershelferInnen“ bezeichnet. Es wird sogar angeregt, dass eine Ewigkeitsklausel ein „gemeinsames Projekt der Oppositionsgruppen gegen diese Bundesregierung“ sein könnte – denn wer (außer der Regierung) „sollte gegen eine Ewigkeitsklausel für Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte sein? Und warum sollte er oder sie das sein“.

Die vorverfassungsrechtliche Macht und das Ende der Ewigkeitsklausel. Zuerst muss festgehalten werden, dass die Ewigkeitsklausel im deutschen Grundgesetz (Artikel 79 Abs 3 Grundgesetz) alles andere als „ewig“ ist. Für den Bestand der Ewigkeitsklausel muss zwischen der verfassungsgebenden Gewalt (pouvoir constituant) und der an die Verfassungsgewalt gebundenen Staatsgewalt (pouvoirs constitués) unterschieden werden. Die Staatsgewalt erlangt ihre Gewalt erst durch die Grundprinzipien der Verfassung und ist damit auch an die Grundprinzipien gebunden. Das „Staatsvolk“ als pouvoir constituant gilt dagegen als vorverfassungsrechtliche Macht, das als unveräußerlicher Inhaber der Souveränität, die Verfassung erst gibt, aus der die Staatsgewalt als pouvoir constitué hervorgeht und ihre Legitimation erhält. Das „Volk“ kann somit – und das ist die herrschende Lehrmeinung – natürlich die Ewigkeitsklausel außer Kraft setzen und zwar geregelt in Artikel 146 GG, wonach das deutsche Grundgesetz „seine Gültigkeit an dem Tage“ verliert, „an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.

Bauprinzipien“ als österreichische Ewigkeitsklausel. Wie das deutsche Grundgesetz schützt auch das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz bestimmte Prinzipien, die nur mittels „Gesamtänderung der Bundesverfassung“ (Deutschland: neue Verfassung) abgeändert werden können – in Österreich durch eine qualifizierte zwei Drittel Mehrheit des Nationalrates und einer Volksabstimmung (Deutschland: „von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen“). In Deutschland fehlt sogar der zusätzliche Schutzmechanismus einer qualifizierten zwei Drittelmehrheit im Bundestag.
Der Vorteil einer Ewigkeitsklausel nach deutschem Vorbild ist daher keineswegs erkennbar, nicht einmal der fundamentale Unterschied zwischen der deutschen „Ewigkeitsklausel“ und den österreichischen „Bauprinzipien“.

Propaganda der CDU zu Berufsverbote, 1972 – (c) CC BY-SA 3.0 DE

Ewigkeitsklausel als Unrecht. Es gibt aus einer fortschrittlichen und linken Sicht mannigfaltige Gründe eine Ewigkeitsklausel strikt abzulehnen. Einerseits schützt die Ewigkeitsklausel gerade die Bestimmungen besonders, die das oben beschriebene Unrecht des Privateigentums an Produktionsmitteln festschreiben. Andererseits ist die „Ewigkeitsklausel“ selbst Träger von Unrecht: Anhand der Debatten über die Ewigkeitsklausel und angesichts der überbordenden Panik durch den RAF-Terrorismus, kam es in Deutschland der 1970er Jahre zum „Radikalenerlass“. Mit dem „Radikalenerlass“ konnte sogenannten „Verfassungsfeinden“ eine Anstellung im öffentlichen Dienst verweigert werden. Auch wenn es in Deutschland ab 1990 ein Umdenken gab, so kam es niemals zu einer rechtlichen Aufarbeitung. In Bayern muss bis heute jedeR BewerberIn im öffentlichen Dienst in einem Fragebogen erklären, ob er oder sie Mitglied in einer „extremistischen oder extremistisch beeinflussten“ Organisation ist bzw. war. Dazu zählen Al-Qaida, Scientology, die NPD, Stasi, aber auch Die Linke – immerhin eine Partei des Bundestages.

Die deutsche Politik gab damit vor, die Verfassung vor ExtremistInnen zu schützen. Tatsächlich kam es fast ausschließlich nur zu Berufsverboten gegen Personen, die als linksextrem eingestuft wurden. Das Gesetz wurde von den Behörden ideologisch ausgelegt.

Macht setzt Recht

Auch Kickl würde Gesetze gerne ideologisch auslegen: Menschenrechte stehen der FPÖ im Weg, also müssen diese „kreativ ausgelegt“ oder gleich verändert werden – Recht müsse von der Politik gesetzt werden (Rechtspositivismus – Recht wird gesetzt), das Recht müsse daher auch der Politik folgen. Die GegnerInnen solcher Ideen argumentierten typisch naturrechtlich: Auf Basis der Vernunft würden Menschen von Geburt an unveränderbare Rechte besitzen – nämlich zum Beispiel Menschenrechte. Und diesem – von der Vernunft gegebenen – Recht müsse sich die Politik unterordnen.

Ein von der Vernunft (früher Gott) gegebenes Recht, das alle Menschen gleichbehandelt, mag eine hohe Strahlkraft besitzen. Aber unabhängig von hinterfragenden Gedanken, wie „was ist Vernunft?“ und vor allem „was ist vernünftig?“, – ist die Frage, ob nun der Rechtspositivismus oder das Naturrecht einer tiefer gehenden Wahrheit entspricht, eine vernachlässigbare ontologische Fragestellung. Im besten Fall geeignet für PhilosophInnen.

Fakt ist: In der Weltgeschichte wurde Recht immer nur mit Macht (durch-)gesetzt. Kein einziges Mal kam Recht durch die reine Vernunft in die Welt. Egal ob man nun (wie die Radbruch’sche Formel) dem entgegenhält, dass es sich bei Gesetzen, die grundlegenden Forderungen der Gerechtigkeit widersprechen, nicht um geltendes Recht handle, sondern um „gesetzliches Unrecht“, dem man den Rechtscharakter absprechen müsse und demgegenüber man keinen Gehorsam schuldig sei. – Dieses „gesetzliche Unrecht“ ist so lange geltendes Recht, wird so lange exekutiert und Ungehorsame diszipliniert, bis eine Macht kommt, um dieses „gesetzliche Unrecht“ zu beenden. Dabei ist es unerheblich, ob Rechtspositivismus oder Naturrecht als Basis von Handlung hergenommen wird: Die Macht und der Wille zur Macht, daran etwas verändern zu wollen, ist das notwendige Mittel.

Entgegen der bürgerlichen Geschichts- und Rechtsschreibung wurde das heutige Recht blutigst erkämpft: Seien es die bürgerlichen Rechte von 1848 oder das für die Gewerkschaften so wichtige Koalitionsrecht und das Vereins- und Versammlungsgesetz oder diverse Arbeitsrechtsgesetze. Auch die Menschenrechte basieren auf die erkämpften Bürgerrechte. Ebenso musste das nationalsozialistische Unrechtssystem mit Waffengewalt beendet werden. Den barbarischen Vorstellungen eines Kickls und FPÖ muss Einhalt geboten werden. Sei es durch parlamentarische Mehrheiten, sei es durch den Verfassungsgerichtshof, der EU oder der Zivilgesellschaft – gelingt das nicht, wird die FPÖ die Macht besitzen, das Rechtssystem nach ihren Gutdünken umzubauen.

Plädoyer für eine offene Verfassung für eine offene Gesellschaft

In Anbetracht des Geschriebenen könnte nun geschlussfolgert werden, dass eine Revolution – eine Revolution im Sinne der Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln – die folgerichtige Konsequenz ist. Prinzipiell stimmt das, aber selbst im bürgerlichen Rahmen lässt sich ein Gesellschaftsmodell entwickeln, das einer offenen Gesellschaft förderlicherer wäre, als eine Zementierung bürgerlicher Rechtsvorstellungen.

So ist ein Unikum der österreichischen Rechtsordnung die weitreichende Realverfassung. Der Gesetzgeber übergibt wesentliche Teile der gesellschaftsgestaltenden Ordnung den Menschen selbst. Hier ist vor allem das kooperative Konfliktmanagement im Wirtschaftsleben zu nennen (Kollektivverträge, Arbeiterkammer, Wirtschaftskammer) und die weitgehend eigenständige Verwaltung des Sozialversicherungssystems. Mittlerweile hat die Republik diese Realverfassung in die ordentliche Verfassung aufgenommen.

Diese Idee, Menschen ihre Angelegenheiten selbstverwalten zu lassen, lässt sich ausweiten (neben Arbeit und Wirtschaft, Gesundheit, z.B. auch Wohnen, Mobilität, Stadtentwicklung, etc.). Ein Ausbau der Selbstverwaltung, eine weitere Demokratisierung der Selbstverwaltung, könnte zu mehr demokratische Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen führen. Wie heute schon im Arbeits-, Wirtschafts- und Gesundheitswesen wird den Menschen ein – innerhalb dieser bürgerlichen Demokratie – Höchstmaß an demokratischer Mitwirkung ermöglicht. Ziel muss es sein, Menschen an alle öffentlichen Angelegenheiten unmittelbar teilnehmen zu lassen. Nur der beständige Austausch von Ideen, auch das beständige Hinterfragen demokratischer Prinzipien garantiert Demokratie und nicht die Konservierung und Versteinerung von – wenn auch heute scheinbar guten – Bestimmungen.

Diese Ideen sind unter den gegenwärtigen Umständen natürlich nicht durchsetzbar. Aber noch weniger eine abstrakte Diskussion über eine Ewigkeitsklausel, deren Tragweite nicht nur undurchschaubar ist, sondern vor allem kaum als Zugpferd für den Widerstand gegen Schwarz-Blau geeignet ist.

Sozialismus oder Barbarei

Nichtsdestotrotz ist jede Hoffnung in eine bürgerliche Gesetzgebung, ein idealistischer Glaube an das „gute Recht“, das nur von korrupten Teilen der Gesellschaft manipuliert wird und wodurch Ungerechtigkeit entsteht. Tatsächlich ist – wie gezeigt – die Ungerechtigkeit ein immanenter Teil bürgerlicher Gesellschaften.

Rechtsextremismus – die Basis des Denkens der FPÖ – und Faschismus sind ohne bürgerliche Gesellschaft nicht denkbar. In der wissenschaftlichen Rechtsextremismustheorie entsteht Rechtsextremismus durch ins Extrem gedachte bürgerliche Wertvorstellungen. Wer Rechtsextremismus und Faschismus bekämpfen will, darf in einem reformistischen Schritt Demokratie nicht konservieren, sondern muss sie offen leben und in einem radikalen Schritt, die immanente Ungerechtigkeit der bürgerlichen Gesellschaft hinterfragen. Ohne diesen letzten Schritt wird Rechtsextremismus und Faschismus niemals verschwinden, sondern immer wieder aufkommen – denn es sind extreme Ausformungen der bürgerlichen Gesellschaft selbst.

Wenn die bürgerliche Ordnung sich in Gefahr wähnt und ihre Werte zu verteidigen beginnt, dann entstehen eben genau die extremistischen Varianten einer bürgerlichen Gesellschaft: Rechtsextremismus und Faschismus.


Weiterführende Literatur:

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